Das kannst Du halten, wie Sie wollen!

Für Rezo, einem Youtube-Influencer und Zeit Kolumnisten, ist „Sie“ als Anrede in den sozialen Medien pauschal eine grob unhöfliche Anrede. Er behauptete schon Ende Januar: „In sozialen Medien ist das Du die Standard-Anrede. Doch erschreckend viele User respektieren das nicht.“

Mehr noch – Rezo nimmt sich sogar heraus, zu definieren, was üblich ist in den sozialen Medien. Das riecht nun allerdings verdächtig nach einer machttaktischen Strampelbewegung, nach dem Versuch, die sozialen Medien zum Monopol der Duzer zu machen.

Und nun hat auch Xing den Vorstoß gewagt und beschließt: Siezen abschaffen! Im Newsletter vom 28. Mai 2020 hieß es, dass zukünftig alle 18 Millionen User des beruflichen Netzwerks fortan geduzt werden sollen. Binnen weniger Stunden regte sich jedoch auch hier massiver Widerstand.

Es stellt sich folglich die Frage: Wie verhält es sich denn nun mit dem Duzen und Siezen?

Du und Sie – der feine Unterschied

In einer überlieferten Geschichte heißt es, dass ein Chauffeur seinen Arbeitgeber darum gebeten habe, zukünftig mit „Sie“ und nicht länger mit „Du“ angesprochen zu werden. Sein Arbeitgeber kam seiner Bitte mit den Worten nach: „Gerne, dann wünsche ich von Ihnen geduzt zu werden – irgendein Unterschied muss bleiben.“ Die Zeiten solcher Machtstrukturen, in denen „die Mächtigen (also die Alten und Reichen) auf Basis von gesellschaftlicher Konvention und Gesetzen die Schwachen (also die Jungen oder Armen) viel eher entmenschlichen und missbrauchen“, wie es Rezo nennt, sind längst vorbei.

Entweder duzt man sich, oder man siezt sich. Höchstens die Jahrgangsstufen 1-9 in Schulen bilden da noch eine Ausnahme: Die Lehrkraft duzt die Kinder, die Kinder siezen die Lehrkraft.

Duzen und Siezen in der analogen und digitalen Welt

Grundsätzlich gilt für das Miteinander in der analogen wie in der digitalen Welt dasselbe: Es ist Umgang zwischen Menschen. Die Verwendung der Anrede Du oder Sie hat per se nichts damit zu tun, wie höflich oder unhöflich jemand ist. Duzer können feingeistige, respektvolle Menschen sein, genauso wie es Siezer gibt, die ungehobelte Grobiane sind und umgekehrt. Dennoch wird das Sie gemeinhin als Ausdruck professioneller verbaler Distanz verstanden, wobei das Du für eine persönliche Nähe steht. So ist das erzwungene Du eine – womöglich intendierte – Manipulation der Beziehung, vor allem dann, wenn noch gar keine besteht.

Auf die Mischformen, wie das Münchner Du, Hamburger Sie sowie das Tages- oder Seminar-Du soll an dieser Stelle erst gar nicht eingegangen werden, da Sie nicht gänzlich unproblematisch sind – heißt es doch: Einmal per Du, immer per Du!

Die Funktion des Duzens ist klar, wenn das Du in abgegrenzten Gemeinschaften, auf Baustellen im Bautrupp, innerhalb eines Unternehmens oder beim Sport in derselben Mannschaft Usus ist. Sinn des Duzens ist die direkte Nähe und ein Kollektiv erzeugende Kommunikation. Aber deswegen direkt das Siezen abschaffen?

Werden Duz-Räume ausgedehnt, dann geschieht dies nicht selten zweckgebunden an mögliche Vorteile, die sich der schnelle Du-Sager davon für sich verspricht, beispielsweise bei der Beauftragung einer Dienstleitung als Duz-Freund: „Mach das doch gerade mal bitte.“

In diversen Foren haben sich Early-Adopter vor bald dreißig Jahren als Abgrenzung gegenüber der realen Welt geduzt. Der Grund dafür war in erster Linie die Verwendung von Nicknames und Avataren, die keine eindeutige Ansprache zuließen.

Vor und zurück – wie das Internet zunächst das Siezen begünstigte

Seitdem jedoch in jedem Haushalt ein Internetanschluss vorzufinden ist, mobile Endgeräte auch der breiten Masse zu jedem Zeitpunkt einen Zugang zum Netz ermöglichen, jede Altersgruppe online ist und man sich nicht mehr scheut, mit Klarnamen aufzutreten, lässt sich nicht mehr pauschal sagen, dass in den sozialen Medien geduzt wird. Schließlich stellt das Internet heutzutage einen Querschnitt unserer Gesellschaft dar.

Wenn man jedem Einzelnen in einer Gesellschaft gerecht werden möchte, sollte man sich frei nach Knigge bewusst machen, was – vor dem Hintergrund der Wertschätzung und Rücksichtnahme – zumindest als anlass- und adressatengerechtes Verhalten empfunden werden könnte. Könnte alleine schon deswegen, da es auch immer auf den Empfängerhorizont ankommt. Was in guter Absicht geschieht, wird bei Weitem noch nicht von jedem als gut empfunden. Das eigene Verhalten ist daher idealerweise weitestgehend situationselastisch. Warum sollte online etwas anderes gelten als offline?

Duzen als Geschäftsmodell

Laut Rezo befinden sich gesellschaftliche Konventionen „ständig in einem Zustand der dynamischen Veränderung.“ Dem muss man beipflichten. Ihm zufolge würde man jedoch in den sozialen Medien nun nur noch Du sagen. Aber so wie es hier erzählt wird, klingt es fast, als wäre damit die höchste Stufe der Evolution erreicht. Im Netz, wo Leute ihre Identität teilweise bewusst verschleiern, könnte man doch genauso pauschal argumentieren, dass man siezen muss, weil man vom anderen noch nichts weiß.

Wo bleibt dann die Dynamik, wenn es sowieso neben dem Du und Sie keine großartigen Alternativen gibt? Für Rezo sind Menschen, die das Sie in seine Duzwelt tragen, Reaktionäre. Nun wissen wir jedoch spätestens seit IKEA, dass so ein alternativloses Du auch ein prima Geschäftsmodell ist. Für einen Youtube-Kanal mag das noch mehr gelten. Hier wird also bereits ein lukratives Geschäftsmodell mit einer vermeintlichen Evolution der Kommunikation vermischt.

Xing beruft sich hinsichtlich der neuen Duz-Kultur auf eine Umfrage, in der <eine überwältigende Mehrheit „ja“ zum „Du“ sagt>. Wer hier genau befragt wurde, wird nicht klar. Ich kann mich nicht entsinnen, befragt worden zu sein – genau so wenig wie meine Xing-Kontakte, die ich diesbezüglich interviewte. Ein weiteres Argument von Xing: Man fühle sich mit dem Du einfach wohler. Einmal mehr entsteht der Eindruck, als ob eigene Interessen und Befindlichkeiten mehr zählen als die des Empfängers.

Duzen oder Siezen – ein Fazit

Ganz klar: So umfassende Kommunikationsmittel und –wege gleichen sich mit wachsender Nutzung immer mehr der Gegenwart an, werden zu einem Abbild der Kommunikation in der analogen – oder ketzerischer: der echten Welt. Wer als aufgeklärter Mensch einen generellen Respekt vor anderen Menschen hat, der kann einem Sie gegenüber nicht so verstockt reagieren. Nach wie vor gilt die Faustregel: „Du“ ist Vertrautheit, „Sie“ ist Unvertrautheit. Du ist distanzlos, das Sie gleicht einer respektvollen Distanz. Hier muss nicht einmal diese bekannte Binsenweisheit rund um das A-Wort bemüht werden.

Wer künstlich und zum Zwecke der besseren Selbstvermarktung eine heile Welt von Gleichen unter Gleichen propagiert, der bewegt sich bereits in einer Welt in Schieflage.

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass sich beim Wechsel des Kommunikationsmediums das Verhältnis zueinander ändert. Bei einer guten Kommunikation werden nicht nur Nachrichten, sondern auch Informationen transportiert. Diese Informationen geben Auskunft über die eigene Rolle, die eigene Funktion und die eigene Persönlichkeit und ermöglichen so eine individuelle Annäherung. Über kurz oder lang werden so Kontakte aufgebaut, gepflegt und vertieft. Irgendwann ist dann die Zeit fürs Duzen gekommen – oder auch nicht.

Die Zeit des Internets als geschlossene Duz-Gesellschaft ist seit der Entwicklung desselben zum Massenmedium überholt. Da, wo sich die Gesellschaft spiegelt, haben Toleranz und Demokratie Vorrang vor den Dogmen kleiner Interessengruppen. Entscheidend ist: Jeder solle nach seiner Façon seelig werden. Doch immer im Bewusstsein, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt. Und das kann auch mal eine Rückkehr zum Sie bedeuten. Also das Siezen abschaffen? Mitnichten!

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